In Zeiten von Corona: Wie Sie die psychische Gesundheit Ihrer Familie schützen

Eltern und Kinder sehen sich durch den Ausbruch der Coronavirus-Krankheit (COVID-19) grossen Veränderungen im Leben gegenüber. Schulschliessungen, die Isolation vom Umfeld, Langeweile oder Stress – es ist für jeden in der Familie eine schwierige Zeit. UNICEF sprach mit der Expertin für Jugendpsychologie und zweifachen Mutter, Dr. Lisa Damour. Sie erklärt, wie Familien sich gegenseitig unterstützen und das Beste aus dieser neuen (vorübergehenden) Normalität machen können.

© UNICEF/UNI313395/McIlwaine

UNICEF: Wie können Teenager und Eltern während des Corona-Ausbruchs für ihre psychische Gesundheit sorgen?

Dr. Damour: Als erstes können Eltern die Tatsache normalisieren, dass sich die Jugendlichen ängstlich fühlen. Viele Teenager haben fälschlicherweise das Gefühl, dass Angst immer ein Zeichen von psychischer Schwäche ist. Dabei haben Psychologen schon lange erkannt, dass Angst eine normale und gesunde Reaktion ist. Sie warnt uns vor Bedrohungen und hilft uns, Massnahmen zu ergreifen, um uns zu schützen. Jugendlichen hilft es, wenn Eltern sagen: «Deine Reaktion ist normal und richtig. Manche Ängste sind im Moment sinnvoll, man sollte sich so fühlen. Diese Angst wird dir helfen, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Sie wird dir helfen, dich im «Social Distancing» zu üben, dir oft die Hände zu waschen und dein Gesicht nicht zu berühren.» 

Als Eltern können wir den Kindern auch helfen, indem wir den Fokus von ihnen weg richten. Sie können es so erklären: «Ich weiss, dass du Angst hast, dich mit dem Coronavirus anzustecken. Aber mit ein Grund, weshalb wir all diese Vorsichtsmassnahmen treffen ist, dass wir so auch die Menschen um uns herum schützen.» Schlagen Sie dem Jugendlichen Dinge vor, die er oder sie tun kann, um zu helfen: beispielsweise Lebensmittel an Bedürftige abgeben oder für sie einkaufen gehen. Wenn Ihr Kind Wege findet, sich um andere zu kümmern, wird es sich selbst besser fühlen.

Die dritte Sache, die jungen Menschen bei Angstzuständen hilft, ist Ablenkung. Psychologen wissen, dass es unter chronisch schwierigen Bedingungen - und das ist sicherlich ein chronisch schwieriger Zustand, der noch eine Weile andauern wird - sehr hilfreich ist, das Problem in zwei Kategorien zu unterteilen: Dinge, gegen die ich etwas tun kann, und Dinge, gegen die ich nichts tun kann. In der zweiten Kategorie wird es im Moment viel geben. Forscher haben herausgefunden, dass positive Ablenkungen uns helfen, mit dieser zweiten Kategorie umzugehen: Wir machen unsere Hausaufgaben, wir sehen unsere Lieblingsfilme, wir gehen mit einem Roman ins Bett. 

Es spricht viel dafür, über das Coronavirus und die damit verbundenen Ängste zu sprechen, um Erleichterung zu finden. Es spricht aber auch viel dafür, nicht darüber zu sprechen, um Erleichterung zu finden. Helfen Sie Ihrem Kind dabei, die richtige Balance zu finden. Das wird einen grossen Unterschied machen. 

UNICEF: Für viele Jugendliche ist es verlockend, sich zur Ablenkung vor den Bildschirm zu setzen. Wie können Eltern und Jugendliche am besten damit umgehen?

Dr. Damour: Ich würde ganz offen mit einem Teenager sprechen und sagen: «Okay, wir beide wissen, dass du gerade eine Menge Zeit hast. Aber wir beide wissen auch, dass es keine gute Idee ist, wenn du diese nur vor dem Bildschirm und in sozialen Medien verbringst. Das ist weder gesund, noch klug, und es könnte deine Angst verstärken. Die Tatsache, dass deine Zeit nicht vom Schulunterricht in Anspruch genommen wird bedeutet nicht, dass diese ganze Zeit durch soziale Medien ersetzt werden sollte.» 

Und dann fragen Sie den Teenager: «Wie sollen wir damit umgehen? Was schlägst du in diesem neuen Normal vor? Deine Zeit ist nicht mehr so strukturiert, wie du es gewohnt bist. Denk dir eine Struktur aus und erklär mir, was dir vorschwebt. Dann können wir sie gemeinsam durchdenken.»

© UNICEF/UNI313421/McIlwaine

UNICEF: Ist die Struktur der Schlüssel zur Aufrechterhaltung eines Gefühls der Normalität?

Dr. Damour: Kinder brauchen Struktur. Punkt. Und was wir alle sehr schnell tun müssen, ist, völlig neue Strukturen zu erfinden, um jeden von uns durch den Tag zu bringen. Deshalb würde ich den Eltern dringend empfehlen, einen Zeitplan aufzustellen. Das kann auch Spielzeit beinhalten, in der die Kinder an ihre Handys gehen und sich mit ihren Freunden austauschen können. Aber es sollte auch technologiefreie Zeit geben – Zeit, um beim Kochen zu helfen und Zeit, um nach draussen zu gehen. Wenn Sie draussen sein können, sollten sie das auch tun. Wir müssen darüber nachdenken, was wir schätzen, und wir müssen eine Struktur aufbauen, die dies widerspiegelt. Es wird eine grosse Erleichterung für unsere Kinder sein, ein Gefühl für einen vorhersehbaren Tag zu haben und ein Gefühl dafür, wann sie arbeiten und wann sie spielen sollen.

Ich würde sagen, für Kinder unter 10 oder 11 Jahren sollten sich die Eltern eine Struktur ausdenken und dann von dort aus mit ihrem Kind verhandeln und sehen, ob es ein sinnvolles Feedback gibt.

Bei Kindern ab 10 und 11 Jahren würde ich das Kind bitten, sie zu entwerfen - und ihnen ein Gefühl dafür zu geben, was für Dinge zu dieser Struktur gehören sollten, und dann mit dem zu arbeiten, was sie erschaffen.

UNICEF: Welche Tipps würden Sie Eltern geben, die eine Struktur für jüngere Kinder aufbauen?

Dr. Damour: Jüngere Kinder müssen im Schulalltag oft Unterbrechungen und Ablenkung durch andere Kinder tolerieren. Das müssen sie zu Hause nicht. Damit will ich sagen, dass wir ihre Fähigkeit, konzentriert zu arbeiten, nicht unterschätzen sollten. 

Dennoch kennt jede Familie ihr Kind am besten. Idealerweise strukturieren sie den Tag so, dass all die Dinge, die erledigt werden müssen – wie Schul- und Hausarbeiten -, erledigt werden, bevor etwas anderes passiert. Für manche Familien ist es am besten, wenn sie das zu Beginn des Tages tun. Andere Familien bevorzugen es vielleicht, den Tag etwas später zu beginnen – auszuschlafen, ein ausgedehntes gemeinsames Frühstück zu geniessen und dann um 10 oder 11 Uhr morgens loszulegen. Jede Familie kann es auf ihre eigene Weise tun. Manche Leute wollen das vielleicht nicht hören, aber: Das ist nun unsere Realität. Also sollten wir das Beste daraus machen und versuchen, es zu geniessen, wann immer das geht. Wenn das bedeutet, dass Sie als Familie Pfannkuchen zum Frühstück machen, was an einem normalen Schultag nie möglich war und das alle glücklich macht, dann geniessen Sie das.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Kinder brauchen Vorhersehbarkeit - so viel Vorhersehbarkeit, wie Sie in einer Situation wie dieser bieten können. Planen Sie den Tag also nicht erst, wenn sie morgens aufwachen. Versuchen Sie, eine Woche als Familie voraus zu planen. Dann überprüfen Sie am Ende der Woche, wo der Plan angepasst werden muss. 

© UNICEF/UNI313683/Bozon/AFP

UNICEF: Wie wichtig ist das eigene Verhalten der Eltern in einer Krisenzeit?

Dr. Damour: Die Eltern sind natürlich auch ängstlich, und unsere Kinder kennen uns besser als wir uns selbst. Sie nehmen emotionale Hinweise von uns entgegen. Ich möchte die Eltern bitten, alles zu tun, was sie können, um ihre Angst in ihrer eigenen Zeit zu bewältigen - ihre Ängste nicht mit ihren Kindern zu teilen. Das kann bedeuten, dass sie ihre Emotionen eindämmen müssen, was für die Eltern manchmal schwierig sein kann, besonders wenn sie diese Emotionen ziemlich intensiv empfinden. Ich würde mir wünschen, dass Eltern ein Ventil für ihre Angst finden, das nicht ihre Kinder sind. Wir sollten daran denken, dass sie die Mitfahrer sind und wir das Auto fahren. Und selbst wenn wir uns ängstlich fühlen, was wir natürlich auch tun werden, müssen sie sich als sichere Passagiere in unserem Auto fühlen.

UNICEF: Sollten Eltern ihre Kinder regelmässig fragen, wie sie sich fühlen, oder löst das mehr Angstgefühle aus?

Dr. Damour: Ich denke, das hängt vom Kind ab. Manche Kinder behalten Ängste für sich. Da kann es wertvoll sein, wenn Eltern fragen, wie es dem Kind geht und was in ihm vorgeht. Andere Kinder werden nonstop darüber reden. Wir sollten eine gute Balance zwischen Austausch und Ablenkung finden. Es ist in dieser Krise wichtig, dass Kinder ihre Gefühle zum Ausdruck bringen können. Aber sie sollen nicht überborden. Wenn Ihr Kind sehr gefühlsbetont ist, werden sie diese ein Stück weit abfangen müssen. Wenn Ihr Kind Gefühle eher für sich behält, müssen Sie ihm helfen, diese raus zu lassen. 

UNICEF: Kinder machen sich vielleicht Sorgen, sich mit dem Virus anzustecken, fühlen sich aber nicht wohl dabei, mit ihren Eltern darüber zu sprechen. Wie sollten Eltern mit ihnen an das Thema herangehen?

Dr. Damour: Eltern sollten ein ruhiges, proaktives Gespräch mit ihren Kindern über das Coronavirus und die wichtige Rolle führen, die Kinder spielen können, um sich selbst gesund zu erhalten. Erklären Sie Ihrem Kind, dass jemand in der Familie irgendwann anfangen könnte, Symptome zu spüren. Dass diese oft sehr ähnlich wie bei einer Erkältung oder Grippe sind, und dass sie sich vor dieser Möglichkeit nicht übermässig fürchten müssen. Bitten Sie Ihr Kind Sie zu informieren, wenn es ihm nicht gut geht oder wenn es sich wegen des Virus Sorgen macht, so dass Sie ihm helfen können.

Erwachsene können sich in die Tatsache einfühlen, dass sich Kinder Sorgen machen wegen COVID-19. Versichern Sie Ihren Kindern, dass die Krankheit aufgrund einer COVID-19-Infektion im Allgemeinen mild ist, insbesondere bei Kindern und jungen Erwachsenen. Es ist auch wichtig daran zu denken, dass viele der Symptome von COVID-19 behandelt werden können. Erinnern Sie Ihre Kinder daran, dass es viele wirksame Dinge gibt, die wir tun können, um uns selbst und andere zu schützen: Häufiges Händewaschen, keine Berührung des Gesichts und Abstand halten.

UNICEF: Es sind eine Menge falsche oder missverständliche Informationen über das Coronavirus im Umlauf. Was können Eltern tun, um dieser Fehlinformation entgegenzuwirken?

Dr. Damour: Finden Sie heraus, was Ihr Kind hört oder was es für wahr hält. Es reicht nicht aus, Ihrem Kind nur Fakten zu geben. Denn wenn es etwas aufgeschnappt hat, das ungenau ist, und wenn Sie das nicht herausfinden, kann dies zu Missverständnissen führen. Denn das Kind könnte die neuen Informationen, die Sie ihm geben, mit den alten, inkorrekten Informationen, die es hat, kombinieren. Finden Sie deshalb heraus, was Ihr Kind bereits weiss, und führen es von da aus auf den richtigen Weg. Erwachsene sollten die Kinder nachdrücklich dazu ermutigen, verlässliche Quellen [wie UNICEF und die Websites der Weltgesundheitsorganisation] zu nutzen, um Informationen zu erhalten oder Informationen zu überprüfen, die sie über weniger verlässliche Kanäle erhalten könnten.
 

© UNICEF/UNI313112/Adelson

UNICEF: Wie können Eltern ihre Kinder unterstützen, die aufgrund von abgesagten Veranstaltungen und Aktivitäten enttäuscht sind?

Dr. Damour: Lassen Sie sie traurig sein und versuchen Sie nicht, ihnen ein schlechtes Gewissen zu machen. Sagen Sie nicht: «Anderen Menschen geht es schlechter als dir.» Jetzt fühlt sich Ihr Kind traurig und schuldig! Das macht es nicht besser. Sagen Sie ihm: «Du hast recht. Das ist wirklich doof. Du kannst nicht mit deinen Freunden zusammen sein oder zu dieser Konferenz gehen, auf die du dich sechs Monate lang vorbereitet hast.» Für Ihr Kind mit seiner Lebenserfahrung sind dies grosse Verluste. Wir Erwachsenen müssen uns daran erinnern, dass selbst wir so etwas noch nie erlebt haben, obwohl wir schon lange leben. Die Unterbrechung von vier Monaten im Leben eines 14-Jährigen ist ein sehr grosser Prozentsatz der Dauer seines bisherigen Lebens. Verglichen mit uns, ist es viel mehr Zeit.

Ein Jahr im Leben eines Teenagers ist wie sieben Jahre im Leben eines Erwachsenen. Wir müssen also ein sehr grosses Einfühlungsvermögen dafür haben, wie gross diese Verluste sind. Dies ist ihr einziges letztes Schuljahr am Gymnasium. Dies ist der einzige erste Frühling als Student. Für ihr ganzes Leben. Dies sind grosse Verluste. Selbst wenn sie nicht katastrophal sind, sind sie zu Recht erschütternd für die Jugendlichen. Eltern sollten also mit Trauer und Frustration der Jugendlichen rechnen und diese annehmen. Ich selbst hatte gestern mit sechs Jugendlichen zu tun, die gerade die Schule verliessen und sehr traurig waren. Ich sagte zu ihnen: «Seid ruhig traurig. Das ist wirklich blöd und ihr habt jedes Recht, traurig zu sein.» Der einzige Weg aus einem schlechten Gefühl heraus ist, es zuzulassen. Wenn wir zum Beispiel Trauer zulassen, geht es uns in der Regel schneller wieder besser. Deshalb sind Einfühlungsvermögen und Unterstützung das A und O für Ihre Kinder. 

UNICEF: Welche Empfehlungen haben Sie für Teenager, die sich einsam und von Freunden und Aktivitäten getrennt fühlen?

Dr. Damour: Hier können wir die Vorteile der sozialen Medien schätzen lernen! Viele Erwachsene haben eine so verbitterte Sichtweise auf Jugendliche und soziale Medien. Doch genau hier können Teenager mit ihren Freunden zusammen sein. Unter Einhaltung der «Social Distancing»-Regeln. Ausserdem würde ich die Kreativität von Jugendlichen niemals unterschätzen. Meine Vermutung ist, dass sie online Wege finden werden, miteinander zu spielen, die sich von der bisherigen Art und Weise unterscheiden. Und deshalb würde ich im Moment nicht alle sozialen Medien verteufeln. Ich würde nur dafür sorgen, dass es für Kinder nicht omnipräsent wird, denn das ist für niemanden gut.

UNICEF: Welche Möglichkeiten können Jugendliche nutzen, um diese schwierigen Gefühle zu verarbeiten und sich um ihre psychische Gesundheit zu kümmern?

Dr. Damour: Ich glaube, jedes Kind wird das auf eine andere Art und Weise tun. Manche werden sich künstlerisch betätigen, andere mit ihren Freunden reden und sich durch ihre geteilte Traurigkeit verbunden fühlen, und nochmal andere werden versuchen, anderen Menschen mit Lebensmittellieferungen zu helfen. Gehen Sie auf Ihr Kind ein und machen Sie sich Gedanken darüber, wie Sie ein Gleichgewicht zwischen dem Reden über Gefühle und dem Finden von Ablenkungen hinkriegen..

UNICEF: Einige Kinder werden in der Schule oder online im Zusammenhang mit dem Coronavirus gemobbt. Was sollte ein betroffenes Kind tun?

Dr. Damour: Die Aktivierung von Umstehenden ist der beste Weg, um gegen jede Art von Mobbing vorzugehen. In diesem Sinne sollten alle Eltern ihren Kindern sagen, dass sie, wenn sie Zeuge von Mobbing werden, auf das Opfer zugehen oder einen Erwachsenen finden sollten, der helfen kann.

UNICEF: Wie können Eltern das Beste aus der Situation machen?  Falls sie mit Ihren Kindern zusammen sein können, wie können sie gemeinsam Spass haben, während Sie zu Hause festsitzen?

Dr. Damour: In unserem Haus - ich habe zwei Töchter - haben wir beschlossen, dass wir jeden Abend ein wechselndes Dinner-Team haben. Wir erstellen einen Plan, wer für das Abendessen verantwortlich ist. Vorher hatten wir oft nicht die Zeit, das Abendessen als Familie zu kochen. Und tagsüber sowieso nicht. Also machen wir das jetzt. 

Für mich selbst habe ich eine Liste mit all den Dingen gemacht, die ich machen möchte: Bücher, die ich lesen möchte, und die Dinge, die ich schon immer machen wollte, aber nie dazu kam. Ich wollte zum Beispiel meiner jüngeren Tochter das Stricken beibringen, wonach sie immer gefragt hat. Wenn sie also noch Interesse hat, dann wird gestrickt! Wir denken darüber nach, alle drei oder vier Abende einen Filmabend zu veranstalten, und wir dachten, dass das Dinner-Team den Film aussuchen darf. Jede Familie hat ihren eigenen Rhythmus und ihre eigene Kultur, und die Herausforderung im Moment besteht darin, Strukturen zu erfinden - sie aus dem Nichts herauszuholen. Aber das können wir tun, und das ist es, was unsere Kinder brauchen.

*Diesen Blogbeitrag haben wir für Sie aus dem Englischen übersetzt. Das Interview und der Artikel stammen von Mandy Rich, Digital Content Redakteurin, UNICEF.